Polizei und Justiz verfolgen monatelang die falsche Person
Es gibt wohl kaum ein beklemmenderes Gefühl, als zu Unrecht ins Visier einer Behörde zu geraten. Das musste auch ein 63-jähriger Kreuzberger feststellen, der monatelang von Polizei und Bußgeldstelle des zu schnellen Fahrens bezichtigt und verfolgt wurde. Ein identischer Nachname sowie fragwürdige Recherche- und Ermittlungsmethoden einer Polizistin wurden dem unschuldigen Mann mit Namensvetter nahe Hamburg zum Verhängnis.
Bußgeldbescheid geht an den Falschen
Für Thomas W. (mit W. wird im Folgenden der gleichlautende Nachname der betroffenen Personen in diesem Verfahren abgekürzt) begann der behördliche Spießrutenlauf im August 2023 mit dem Erhalt eines Bußgeldbescheids. Angeblich sollte er am 15. Mai 2023 in einer Straße in Kaltenkirchen in Schleswig-Holstein mit einem Kleintransporter sieben Stundenkilometer zu schnell unterwegs gewesen sein. Die Folge war ein Verwarngeld in Höhe von 20 Euro. Das Problem: Der Kreuzberger war zum Tatzeitpunkt nicht in Kaltenkirchen und hat auch sonst nichts mit der Stadt nördlich von Hamburg am Hut.
Wahrheitssuche begann mit Einspruch gegen Bußgeldbescheid
Fortan versuchte W. seine Unschuld im Angesicht der Widerstände und der Beratungsresistenz der Polizeidirektion Bad Segeberg zu beweisen. Er widersprach dem Bußgeldbescheid unverzüglich und sah sich nach ausbleibender Reaktion gezwungen, auch rechtlichen Beistand zurate zu ziehen. Da die Angelegenheit ihm schlaflose Nächte bescherte, wandte er sich direkt an die Polizeibehörde, um endlich eine Antwort auf die Frage zu finden, warum die Polizei gerade ihn verdächtigte.
Die große Verwechslung
In einem Schreiben an die Polizei wies er bestimmt darauf hin, nicht der Fahrer des Kleintransporters gewesen zu sein. Auf dem Blitzer-Foto erkannte er einen anderen Mann, dessen Aussehen und Alter sich deutlich von seinem unterschied.
Es stellte sich heraus, dass der Halter des Fahrzeuges, laut Süddeutscher Zeitung ein gewisser Julian W., Metallbauer aus Wispatech in Kaltenkirchen, ist. Was die Ordnungshüter aber nicht veranlasste, ihn oder einen der neun Mitarbeiter des 47 Jahre alten Namensvettern des Geschwindigkeitsverstoßes zu verdächtigen.
Polizei ermittelt auf google.de
Stattdessen beschränkten sich die Ermittlungen der zuständigen Polizistin auf eine kurze Google-Recherche, wahrscheinlich mithilfe einer Eingabe des Namens. Die Suchmaschine spuckte einige Ergebnisse zu dem Nachnamen in Kaltenkirchen aus, noch mehr aber in Zusammenhang mit der Stadt Berlin. Der zu Unrecht beschuldigte Kreuzberger ist Experte für Verteidigungspolitik und entsprechend prominent in den Suchergebnissen vertreten.
Die Polizistin war dennoch davon überzeugt, den korrekten „Verkehrssünder“ auf einem jahrealten Wikipedia-Foto erkannt zu haben: Aus Sicht des Betroffenen ein folgenschwerer Fehler, der einen unbescholtenen Bürger viel Zeit, Nerven und Geld kosten sollte.
Ein Anruf hätte ausgereicht
Dabei wäre es so einfach gewesen, den Fahrer und Halter des zu schnellen Fahrzeuges zu identifizieren: Der Unternehmer Julian W. antwortet bei Anruf der Süddeutschen Zeitung prompt und beteuert, seinen Namensvetter nicht zu kennen: „Nicht verwandt, nicht verschwägert.“
Dennoch beharrte die Polizei auf ihren „Ermittlungsergebnissen“ aus dem Netz und fügte diesen noch hinzu, beide hätten einen gemeinsamen Wohnsitz gehabt. Dass sie rund 300 Kilometer voneinander entfernt in Schleswig-Holstein und Berlin lebten, ließ sie unter den Tisch fallen.
Ordnungshüter tappen beharrlich im Dunkeln
Auch nach sechs Monaten der Verwechslung hört der Spießrutenlauf nicht auf. Die Bußgeldstelle lehnt eine Einstellung des Verfahrens ab.
Dass sich Polizei und Justiz auch irren könnten, kommt keinem der beteiligten Staats-Akteure in den Sinn. Auch ein vom Anwalt verschicktes Vergleichsfoto, das sich deutlich von jenem der Radarfalle unterscheidet, konnte die Polizei nicht zur kritischen Überprüfung ihrer Arbeit bewegen.
Glaube an den Rechtsstaat angekratzt
Eine mögliche Erklärung für das Handeln der Polizei und der Behörden könnte die Verfolgungsverjährung sein, die wegen der Einhaltung von Fristen einen gewissen zeitlichen Handlungsdruck mit sich bringt. Warum sie aber auf die Einwände und Widersprüche nicht eingegangen sind und auf der kurzen Google-Recherche beharren, bleibt weiterhin unklar.
Nun kann nur noch das Urteil des Amtsgerichts über das Schicksal des Beschuldigten entscheiden. Vermutlich nach Aktenlage? Nur weil der Transporter eines Namensvetters geblitzt wurde und die Polizei ihre Ermittlungsarbeit durch eine besorgniserregend sorglose Google-Recherche ersetzte, steht er heute mit Anwaltskosten, blanken Nerven und sicher auch einem angekratzten Verhältnis zum Rechtsstaat da.
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Quelle: sueddeutsche.de